Interview mit Raymond Unger

„Wer sind wir eigentlich? …in Zeiten von“ – diese Frage steht im Zentrum des Heiligenfeld Kongresses vom 7. bis 10. Mai 2026. Einer der Referenten ist der Berliner Maler, Autor und Vortragende Raymond Unger. In seinen Bildern, Büchern und Vorträgen verbindet er Kunst, Psychologie und Gesellschaftsanalyse. Sein Blick richtet sich immer auf den Prozess der Individuation – auf die Frage, wie der Mensch zu sich selbst findet.

Wir haben ihm im Vorfeld vier Fragen gestellt.

1. Wie würden Sie Ihr Wirken als Künstler und Autor beschreiben – und was treibt Sie in Ihrer Arbeit an?

Ich lebe als Maler, Autor und Vortragender in Berlin. Meine Arbeit kreist um die Frage: Wie findet der Mensch zu sich selbst? Für mich ist Kunst weniger ein ästhetischer Prozess, als ein dokumentierter Individuationsprozess – eine Art Therapie auf offener Bühne. Ein Künstler, der sich selbst konfrontiert, wird zum Wahrheitssucher. Seine Erfahrungen werden im Werk konserviert und überdauern die Zeit, mitunter können sie sogar politische Sprengkraft entfalten. Insbesondere wenn Bürgerrechte abgebaut werden, kann authentische Kunst ein Antidot zu Angst und Scham sein, mit denen eine krisengeschüttelte Gesellschaft ihre Bürger zur Normierung zwingt. Ich begreife meine Malerei, meine Bücher und Vorträge als Beiträge zu dieser Wahrheitssuche, als Versuche, das Verborgene sichtbar zu machen – und damit Räume für Heilung, Reifung und Freiheit zu öffnen.

2. Gab es in Ihrem Leben ein Erlebnis oder eine Erkenntnis, die Sie besonders geprägt und Ihr Schaffen nachhaltig beeinflusst hat?

Prägend war für mich die Erkenntnis, dass Wunden nur heilen, wenn man sie zeigt. Ich habe mich lange mit der transgenerationalen Traumaweitergabe beschäftigt und dabei erfahren, wie tief die Schatten kriegsbelasteter Kindheiten in uns fortleben. Diese Prägungen bestimmen nicht nur Biografien, sondern auch gesellschaftliche Entwicklungen. Es war mir immer wichtig, Räume zu schaffen, in denen das Verdrängte wieder sichtbar wird – sei es in Bildern, in Geschichten oder in analytischen Texten. Denn was wir nicht hervorbringen, wird uns zerstören. Was wir ans Licht bringen, kann uns retten.

3. Was verbinden Sie mit dem Kongressthema „Wer sind wir eigentlich?…in Zeiten von“?

Wir leben in Zeiten multipler Krisen. Angst ist dabei der eigentliche Motor – sie macht Menschen ausgrenzend, gehorsam, klein. Corona hat uns gelehrt, dass Freiheit kaum noch einen Wert hat, wenn Angst dominiert. Die Frage „Wer sind wir?“ entscheidet sich daran, wie wir mit dieser Angst umgehen. Wer sie verleugnet, sucht Schuldige im Außen. Wer sie annimmt, gewinnt Freiheit zurück. Der Prozess, den ich die Heldenreise des Bürgers nenne, beschreibt genau das: Erst durch die Konfrontation mit dem Drachen, dem Schatten, finden wir zum Erwachsensein. Der Schlüssel zu sozialem Frieden ist die Entwicklung des Selbst. Und dies geschieht durch den Prozess der Individuation. Dieser zunächst so narzisstisch scheinende Weg ist in Wahrheit der Schlüssel zu einer harmonischeren Gesellschaft. Denn ein Mensch, der gelernt hat, seine Projektionen zurückzunehmen und Verantwortung für sein Glück bei sich selbst zu suchen, ist Balsam für das Kollektiv.

4. Welche Botschaft oder Anregung ist Ihnen wichtig, den Menschen am Kongress bereits im Vorfeld mitzugeben?

Das letzte große Abenteuer der Menschwerdung ist die Entwicklung zu einer authentischen Teilnahme am gesellschaftlichen Prozess – frei von Angst, getragen von Wahrhaftigkeit. Viele verbringen die erste Lebenshälfte damit, zu reagieren: wirtschaftlich bestehen, Kinder erziehen, Sicherheit schaffen. Doch die zweite Lebenshälfte sollte dem Sinn gewidmet sein – dem Übergang vom Getriebenen zum Prägenden. Das verlangt, dass wir uns unseren unbewussten Affekten stellen, eine Zeitlücke schaffen zwischen Impuls und Handlung, die Reflexion erlaubt. Nur so werden wir frei.
Darum möchte ich Ihnen mitgeben: Zeigen Sie Ihre Wunde. Entwickeln Sie Ihre Individualität. Werden Sie wahrhaftig. Denn gelebte Authentizität ist ansteckend – und subversiv. Sie ist der Schlüssel zu Mut, Mündigkeit und einer friedlicheren Gesellschaft.

Vielen Dank für das Interview.