Wie wollen wir leben?
25
Nov

Dr. Joachim Galuska im Interview „Wie wollen wir leben?“

Jedes Jahr im Mai oder Juni ruft der Heiligenfelder Kongress Menschen zusammen, um sich zu einem fundamentalen Thema des Lebens auszutauschen, wie zum Beispiel in den letzten Jahren zu „Burnout und Resilienz“, „Liebe“, „Kairos“ und „Achtsamkeit“. Im Jahr 2021 wird der Kongress unter dem Thema „Wie wollen wir leben?“ stehen.

Anita Schmitt, Leiterin der Akademie Heiligenfeld, hat Dr. Joachim Galuska, Gründer und Gesellschafter der Heiligenfeld Kliniken und der Akademie Heiligenfeld, hierzu interviewt. Joachim Galuska gibt im Interview Einblick in die Themenfindung der Kongresse, beleuchtet das Thema des 2021er Kongresses genauer und geht auch auf geänderte Abläufe und Besonderheiten in Zeiten der Corona-Pandemie näher ein.

A.S.

Die Akademie Heiligenfeld veranstaltet seit 2002 Kongresse jedes Jahr zu einem sehr we­sentlichen gesellschaftlichen Thema. Im nächsten Jahr wird es zum Thema „Wie wollen wir leben?“ sein und gleichzeitig müssen wir berücksichtigen, dass Corona vielleicht noch nächstes Jahr eine Auswirkung hat. Wir werden dieses Jahr voraussichtlich den ganzen Kongress jetzt schon beginnen. Aus diesem Grund wollen wir jetzt verschiedene Beiträge auch aufnehmen und unsere Kongressteilnehmer und unsere Referenten mit einbeziehen in diesen ganzen Prozess. Der Kongress ist ein Erlebnisraum, ein Begegnungsraum mit all unseren Teilnehmern, mit unseren Referen­ten, mit uns. Unsere Teilnehmer melden uns oft zurück, dass dies der einzige Augenblick im Jahr ist, wo sie davon zehren.

Es wird eine viertägige Veranstaltung geben, ein Kongress in der Präsenz, es wird aber auch vielleicht einen Online-Kongress geben und all das zusammenzubringen, darauf freue ich mich besonders.

Jedes Jahr überrascht Heiligenfeld mit einem neuen Kongressthema. Welche Überlegun­gen stecken dahinter und wie kommt es zu dieser Themenfindung?

J.G.

Die Themen haben sich ergeben aus dem ganzheitlichen therapeutischen Konzept, ganz ursprünglich, wo wir Medizin, Psychotherapie mit Geist, Seele, Spiritualität in unser The­rapiekonzept integrieren. Wir wollten dies öffnen für die Gesellschaft und haben dann Kongresse gemacht, wo diese Themen dann von vielfältiger Seite be­leuchtet wurden. Da wir ein Wirtschaftsunternehmen, ein Gesundheitsunternehmen, sind, spielt natürlich auch die Frage eine Rolle: Wie führt man ein Unternehmen, wie wirtschaf­tet man in einer Marktwirtschaft? Und das hat dazu geführt, dass wir diesen ganzheitlichen Ansatz auch auf unser Unternehmenskonzept angewandt haben und dann auch Kon­gresse gemacht haben zu dem Thema: „Wie kann man Wirtschaften mit Geist, Seele, Spi­ritualität?“. Vielleicht die ersten 10 Jahre der Kongresse waren dadurch geprägt. Wir sind dann immer mehr zu den Fragen gekommen: Was beschäftigt uns eigentlich in der Tiefe? Was sind die Kriterien, nach denen wir leben? Und wir haben dann so fundamentale Prinzipien als Themen gewählt: Bewusstsein, Liebe, Wir-Bewusst­sein, Resilienz, Achtsamkeit, Spiritualität im Leben. Die Themen sind eigentlich immer so entstanden, dass sie aus sich heraus eine gewisse Dynamik entfalten. Aus den Aus­einandersetzungen mit den Themen haben wir uns immer gefragt, was macht eigent­lich Sinn als das nächste Thema, und natürlich auch aus der Auseinandersetzung mit der Welt, mit der Gesellschaft: Was bewegt die Welt, wie verändert sich die Welt, unsere Welt, aber natürlich auch die große weite Welt, die globale Welt? Und in diesem Zusammenspiel von aktuellen Entwicklungen in der Welt und unserer Suche nach den tiefen inneren Wer­ten, Kriterien und Themen sind die jeweils nächsten Kongressthemen entstanden.

A.S.

In diesem Jahr stand der Kongress unter dem Thema „Reifung“ – er musste abgesagt wer­den. Weshalb findet er im nächsten Jahr nicht unter dem gleichen Thema statt und wird stattdessen das Thema: „Wie wollen wir leben?“ haben?

J.G.

Wir hatten das Thema Reifung gewählt, weil wir beobachtet haben, dass in den gesell­schaftlichen Entwicklungen begrenztere Reifungsgrade zu erkennen sind, z. B. in den neuen Medien. Zugleich ist Reifung ein, auf eine gewisse Weise, tabuisiertes Thema, weil es ja immer auch die Frage: „Was ist reif, was ist unreif?“ hervorruft. Und wir waren der Meinung, wir stellen uns auch einmal diesen Fragen: Was bedeutet eigentlich indivi­duelle Reifung, organisatorische Reifung, gesellschaftliche Reifung, und wo sind Reifungs­notwendigkeiten – sagen wir es einmal so – gegeben? Bei uns ist es immer so: wenn wir einen Kongress vorbereitet haben und der organisiert wird, dann bereiten wir bereits den darauffolgenden vor, das heißt, bevor der Kongress Reifung stattgefunden hat, war schon der nächste Kongress thematisch bestimmt. Und zwar sollte er eigentlich über die „Würde des Lebens“ gehen. Aus der tiefen Erkenntnis, wie wir im Leben stehen, gesellschaftlich, global, erfordert es eine Rückbesinnung und einen Rück­bezug auf etwas ganz Fundamentales, nämlich so etwas wie die Würde, zu leben, zu ster­ben, im Umgang mit Krankheit, überhaupt im Umgang mit den Lebewesen. Und als dann die Corona-Pandemie gekommen ist und wir gesehen haben, wir wissen nicht so richtig, wie der nächste Kongress genau stattfinden kann, haben wir alles in Frage gestellt. Wir haben sowohl die Themen in Frage gestellt als auch den Ablauf in Frage gestellt. Was die thematische Entwicklung betrifft, geschieht eigentlich jetzt eine so große gesellschaftliche Veränderung, in der so viele Dinge sichtbar werden, die wir vorher so nicht genau gesehen haben, dass wir gesagt haben: vielleicht müssen wir die Themen­findung etwas verändern und zwar dahingehend, dass wir mehr eine Frage stellen als ein Kriterium, ein Prinzip, in den Vordergrund zu stellen, das ja schon wieder eine Antwort ist. Die Würde wäre eine Antwort. Achtsamkeit, Bewusstsein, das sind Antworten auf Fragen des Lebens. Aber wir wissen nicht genau, wie sich im Augenblick die Welt verändert. Deshalb haben wir uns die Fragen gestellt: Wie wollen wir leben, nach Corona, mit Corona, ohne Corona, oder überhaupt als Menschen? Also das Ganze nochmal richtig aufzumachen von der Thematik, das war uns sehr wichtig, und diesen Kongress sozusagen in eine neue Offenheit zu bringen, auch was die Themen betreffen. Auch das Kongress­format kennen wir noch nicht! Wir wissen nicht genau, wie viele Teilnehmer wir haben können nächstes Jahr. Wir haben uns aber entschlos­sen, dass wir auf jeden Fall einen Kongress machen wollen. Und diese neue Offenheit, die jetzt auch durch diese vielen Veränderungsprozesse entsteht, wollen wir auch dafür nutzen, zu überlegen, ob wir unseren Kongress auch ein Stück weit verändern, z. T. natürlich, weil wir es müssen, z. T. aber auch, weil wir es wollen! Es gibt zum einen in der Kongresskultur eine Bewegung hin zur Digitalisierung, zu Online-Formaten, und zum anderen haben wir uns gedacht, es wäre ganz gut, wenn wir den Kongress mehr in einen Prozess bringen. Dieser Kongress wird ein Kongress in Entwicklung sein, weil wir einzelne Elemente – auch neue Elemente – schon jetzt einfügen wollen. Wir wollen Interviews machen mit den Referenten, die wir schon jetzt ins Netz stellen oder in einen abgeschlossenen Bereich für die Teilnehmer, vielleicht Kurvorträge, vielleicht Auszüge aus Vorträgen, vielleicht auch irgendwo ein Live-Gespräch, dass wir dann ins Netz stellen für die Teilnehmer, die eben den Kon­gress schon jetzt mit uns gehen. Und wir wollen die endgültige Art und Weise, wie der Kongress dann stattfinden wird, auch zusammen mit den Referenten und den Teilneh­mern entwickeln, d. h. wir wissen noch nicht genau, welche Elemente wir vielleicht verän­dern. Wir werden wahrscheinlich nicht so viele Workshops machen wie sonst, vielleicht mehr parallele größere Veranstaltungen, das ist alles noch unklar, aber auf jeden Fall wird der Kongress stattfinden! Er wird ein Erlebnisraum, er wird ein Begegnungsraum, es wird Gedichte geben, es wird Möglichkeiten geben, sich zu begegnen. Das ist uns sehr wichtig, reale Erlebnisse, reale Begegnungen, und wir verstehen diese zusätzlichen Ele­mente als Ergänzungen, die jetzt irgendwie den Kongress in Zukunft bereichern können und sollen. Also wird auch der Kongress vielleicht auf eine gewisse innere Weise in diese neue Welt hinein sich verändern und wachsen.

A.S.

Joachim, was verbindest Du mit dem Thema: Wie wollen wir leben?

J.G.

Wie wollen wir leben?

Also erst mal natürlich: Wie? Das Wie, das sind die Kriterien letzt­endlich, nach denen wir unser Leben ausrichten. Die Prinzipien, wie wir leben wollen. In der Tiefe erschließen sich diese Prinzipien durch die innere Verbundenheit mit dem Le­ben. Durch das innere Einswerden, das innere Erkennen, dass wir alle Lebende sind. Und wenn wir das spüren, dann spüren wir natürlich auch fundamentale Prinzipien, die das Leben irgendwie in sich trägt. Für mich selber ist es so, wenn ich mich frage, wie wollen wir leben, dann erschließt sich für mich z. B. die Fürsorge: Die Fürsorge, die wir füreinander haben, die Liebe zum Leben, die wir finden, denn das Leben hat und trägt in sich eine Liebeskraft. Das Leben ist permanent in Entwicklung, es entfaltet sich, und diese Entfaltung z. B. im Bildungssystem zu fördern, so dass das Leben oder die Lebendigkeit, die in jedem von uns ist, in den Kindern, aber auch in uns Erwachsenen, so dass diese zum Ausdruck kommen kann, dass diese sich entfalten kann. Dieses Potential des Lebens sich zu ent­falten, zu nutzen und zu fördern, ist auch für mich ein ganz wichtiges „Wie“. In Würde zu leben, natürlich, was das nächste Kongressthema eigentlich wäre, dem Leben seine Würde zu geben, würdig zu leben Was bedeutet das eigentlich, das ist ganz vielfältig, was wir da fragen können, vor allen Dingen natürlich in der Medizin, im Gesundheitssystem, im Umgang mit Altern, mit Sterben. Albert Schweitzer hat ja von „der Ehrfurcht vor dem Le­ben“ gesprochen, die die Würde doch ganz stark in den Vordergrund stellt. Natürlich geht es auch darum, in Toleranz zu leben mit der Vielfalt. Das Leben ist etwas, was sich sehr unterschiedlich ereignet, in vielfältigen Formen, nicht nur bei uns als Menschen, aber eben bei uns Menschen auch, und das Thema Toleranz für die Unterschied­lichkeit der Kulturen, der Geschlechter, und der verschiedenen Menschen, diese Toleranz ist – glaube ich – ein ganz wichtiges Thema gerade heute auch in der Zeit, in der wir leben. Natürlich geht es darum, möglichst bewusst zu leben, das ist eines meiner Kernthemen gewesen in meinem Leben. Also ein erwachtes, möglichst waches, bewusstes Leben zu leben, sowohl individuell als auch, dass wir uns immer besser verstehen als Menschheit, wer wir sind, wie wir sind und wie wir leben, wie wir funktionieren, wie wir miteinander umgehen. Dieses Bewusstsein halte ich auch für ganz zentral und natürlich: Wie wollen wir kreativ leben? Das ist ein großes Potenzial, eine große Kraft, die die Evolution in sich trägt. Dieses Neue, was es schafft und in uns dann Fähigkeiten entwickelt auch zu kreativem Aus­druck, zu künstlerischem Ausdruck, der auch für sich selbst steht, das ist glaube ich, etwas ganz Besonderes und Unverzichtbares, für mich ein ganz wichtiges Kriterium des Wie.

Dann eben: Wie wollen wir leben – das Wollen. Ich glaube, dass es eine größere Rolle spielt, als wir bisher immer so gedacht haben, denn wenn wir uns verbunden fühlen mit dem Leben, dass das Leben und wir nicht getrennt sind, dass wir nicht das alles ob­jektivieren, sondern dass wir ein Teil des Lebens sind, der uns hervorgebracht hat, dann entsteht so etwas wie eine gewisse innere Verantwortlichkeit für das Leben, eine Verant­wortlichkeit für unser Tun. Dann können wir nicht mehr einfach nur sagen: „Es geht hier nur um mich und meine individuelle Entfaltung, und den Rest, den benutze ich halt dafür.“ Alles was ich benutze, gehört zu mir, also insofern bin ich verantwortlich für das, was ich tue! Also Wollen hat auch die Bedeutung, in Verantwortlichkeit zu leben. Denn natürlich gibt uns das Leben frei. Es ist ja wunderschön, die Freiheit zu spüren, die das Leben jedem schenkt, indem es uns in die Welt so hineingegeben hat, aber diese Freiheit gleichzeitig in Verantwortlichkeit zu leben, das ist glaube ich, eine große Herausforderung, individuell, gesellschaftlich vor allen Dingen.

Und jetzt die Frage: Wir, wie wollen wir leben? Wer ist denn wir? Damit meine ich nicht nur jeden einzelnen von uns, sondern auch eben alles wir, zu dem wir gehören, also als Familie, die Kultur, in der wir leben, die Subkultur, die Freunde, mit denen wir zusammen sind, die Gesellschaft natürlich. Aber wir sind na­türlich auch wir alle Menschen oder, wenn wir uns verbunden und verantwortlich fühlen, mindestens sogar alle Lebewesen. Also wie wollen wir aus Verbundenheit mit allen Lebe­wesen leben? Denn das wäre natürlich die große Verantwortung und die große Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Ich bin auch nicht der Meinung, dass das alles einfach ist, aber dieses Wir auch als Herausforderung zu nehmen, uns aufzumachen. Und letztend­lich ist es Frage, wie weit können wir uns öffnen für das größere Wir, den Planeten, den Kosmos, an dem wir teilhaben, von dem wir ein Teil sind.

Und schließlich: Wie wollen wir leben? Was ist das Leben? Das ist für mich die zentralste Metapher überhaupt, das Leben zu verstehen. Was ist eigentlich mein Leben inmitten von Leben, was ist unser Leben inmitten von Leben, wie fühlt sich das an, wie ist das, welche Dynamik, welche Kraft, welchen Sinn, welche Werte treibt das? Also dem Leben eine Chance zu geben, es zu ver­gegenwärtigen. Wie wollen wir ein vergegenwärtigtes Leben führen? Und vielleicht ist es auch letztendlich noch mal ganz anders herum die Frage: Wie möchte das Leben leben? Wie will das Leben leben, als ich, als du, als wir, als alles was lebt?

Das Video-Interview finden Sie hier.