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Mai

REIFUNG UND SPIRAL DYNAMICS INTEGRAL (SDI)

Wenn ich an Reife denke fällt mir saftiges, aromatisches, wohlschmeckendes Obst mit einzigartigen Schönheitsfehlern ein. In unserer modernen Welt ist natürlich gereiftes Obst eine Seltenheit. Zu früh geerntet präsentiert es sich geschmack- und geruchlos, in einheitlicher Optik, außen hart, innen manchmal zu weich. Dem Reifungsprozess wurde die Zeit gestohlen. Zeit, die das Obst braucht, um in seinem natürlichen Rhythmus durch verschiedene Phasen des Wachstums zu gehen, um schließlich zur vollen Reife zu kommen. Auch wir Menschen brauchen Zeit, um unsere unterschiedlichen Entwicklungsstufen zu durchschreiten. Kindern, deren Lebenskontext nötigt, vor der Zeit erwachsen zu werden, berauben wir wert- und sinnvolle notwendige Erfahrungen für ihr Heranreifen. Bei Kulturen, denen wir ein eigenes Entwicklungstempo absprechen, und z.B. unsere westliche Form der Demokratie unbedacht aufzwingen, beobachten wir Chaos, Regression und das Auftauchen ungesunder Strukturen und Führung.

Reife betrachtet durch die Perspektive von Spiral Dynamics integral

SDi als Metamodell kann uns hier eine vielfältige und differenzierte Landkarte liefern, um uns dem Thema Reifung zu nähern. Wenn wir auf die Entwicklungsstufen des SDi Modells schauen, verstehen wir intuitiv, dass jede dieser Ebene Zeit und Raum zum Reifen braucht. Was bedeutet in diesem Kontext „reifen“? Im Idealfall, dass sich jede Ebene zu ihrem vollen Potenzial entfaltet, sprich alle Facetten des jeweiligen Wertesystems ausgebildet werden. Aber auch das Entwickeln von Teilaspekten dieses Potenzials, sofern sie einen gesunden Ausdruck haben, führt zur Reife. Gesund meint hier, dass das Ausleben der Wertepräferenzen weder mir noch anderen, einschließlich Umwelt, Schaden zufügt. Zwei Beispiele verdeutlichen, wie dies sich konkret darstellt.

Im Wertesystem, dass für „Zugehörigkeit“ steht (Purpur), entsteht Reife, wenn wir als Kind die stärkende Erfahrung machen durften, uns in einer Gemeinschaft, zuerst in unserer Familie, sicher und geborgen zu fühlen. Wenn wir genug Zeit und Raum hatten, Vertrauen zu uns selbst und zu anderen Menschen zu entwickeln, Solidarität und Loyalität zu spüren. Uns als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen, die tief mit einer Örtlichkeit verbunden ist, und dadurch erfahren, zu wem und wohin wir gehören. Hier entsteht das sich verwurzeln und heimisch fühlen. Das positive Erfahren und Ausreifen dieser Facetten bildet ein solides Fundament für das Entwickeln weiterer Ebenen.

Reife auf der nächsten Ebene der „Ego-Bildung und Impulsivität“ (Rot) bedeutet, dass wir die Chance hatten, in unserem Prozess der Individualisierung von unserer Familie Unterstützung zu erfahren, auch wenn dies bedeutete, uns gegen sie aufzulehnen. Diese Raum-Zeiten sind als „Trotzphase“ bekannt und erleben einen Höhepunkt in der Pubertät, wenn wir unsere eigene Identität weiter ausbilden und konsolidieren. Diese Entwicklung durchschreiten zu können, ohne die Zuwendung und Liebe unserer Eltern und unseres Umfeldes zu verlieren, ist die Voraussetzung zur Reife dieses Wertesystems. Genug Zeit zu haben, um uns in unserer Abgrenzung und Mut zu erproben, bildet die Grundlage, ein gesundes Verständnis von individueller Macht zu entwickeln und dessen Ausdruck auszubalancieren. Reife zeigt sich darin, dass wir uns durchsetzen können und uns den nötigen Raum für Gestaltung und Aktionen nehmen, ohne damit andere zu unterdrücken bzw. anderen zu schaden.

Was braucht es von uns, damit wir heute in einer reifen Weise Verantwortung übernehmen können?

Jede Entwicklungsstufe stellt ein wunderbares Potenzial einzigartiger menschlicher Erfahrungen und Qualitäten dar. Kronos als lineare Zeit und Kairos als Zeitqualität ermöglichen uns, uns in immer komplexeren und vielfältigen Dimensionen unseres Seins zu erproben, neue Facetten zu entdecken. Mit dem Erleben und Integrieren dieser unterschiedlichen Seins-Ebenen erweitern wir unsere Möglichkeiten, gewinnen an Bewusstheit, Selbstverantwortung und innerer Reife. Diese Eigenschaften sind Voraussetzungen für das umsichtige Übernehmen von Verantwortung im Außen.

Dieser Beitrag ist in gekürzter Form in der aktuellen Ausgabe von Evolve – Zeitschrift für Bewusstsein und Kultur erschienen.

Autorin: Claudine Villemot-Kienzle