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Jan

Heike Pourian – „Offenheit für etwas Unbekanntes – der getanzte Vortrag“

In diesem Beitrag möchten wir Ihnen die diesjährige Kongressreferentin Heike Pourian vorstellen. Sie stellt den tanzenden Vortrag vor und beschreibt, wie dieser abläuft.

Offenheit für etwas Unbekanntes, etwas nur Erahnbares – wie geht das? Wie können wir, wie Otto Scharmer es nennt, dem Zukünftigen eine Landebahn bereiten, damit es ankünftig werden kann? Wir sind es gewohnt, Lösungen mit dem Verstand herbeizudenken. So übersehen wir, dass unserem Körper, diesem komplexen Organismus, die Intelligenz alles Lebendigen bereits innewohnt. Wir müssen gar nichts tun, uns nicht anstrengen, nur lauschen: Uns öffnen für das was schon da ist, aber vom Verstand allein nicht erfasst werden kann.
Wie eine Dekonstruktion von Selbstverständlichkeiten – also Systemwandel – gehen kann, das zeigten vor über 50 Jahren die Pionierinnen und Pioniere der Contact Improvisation, indem sie kurzerhand alles hinterfragten, was damals den Bühnentanz ausmachte. Heraus kam eine selbstermächtigende, sinnliche, lustvolle Tanzkultur, eine Art zeitgenössischer Volkstanz, von der einige behaupten, das sei doch gar kein Tanz. Die Erweiterung, die Wiederaneignung des Tanzbegriffs scheint also gelungen. Wenn etwas über sich hinaus wächst und sich aus seinen Beschränkungen befreit und zu seiner Essenz gelangt, ist es kaum mehr wiederzuerkennen.
Mit dem Format des Getanzten Vortrags besinnen wir uns der Anfänge der Contact Improvisation. Wir begeben uns als Duett, Trio oder als improvisierende kleine Gruppe in die Mitte eines Kreises. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen außen herum und sind eingeladen, auszusprechen, was sie sehen. Dabei hilft eine Holzkugel, die wir als Redegegenstand kreisen lassen. Wer sie in der Hand hält, kann – muss aber nicht – sprechen. Bei größeren Gruppen benutzen wir ein oder auch zwei Funkmikrofone, die auf die gleiche Weise weitergegeben werden. Wir Tanzenden beziehen uns auf das Gesprochene – vor allem in Bewegung und gelegentlich auch mit Worten. Jedes Mal neu. Der getanzte Vortrag ist eine Hilfe, zellulär zu erfassen wie sehr sich die Kultur des Vertrauens, der Durchlässigkeit und der feinen Wahrnehmungsfähigkeit, in die wir nun hineinwachsen dürfen, von derjenigen unterscheidet, die wir momentan als normal erachten.
Menschen, die den getanzten Vortrag bezeugen, machen eine Referenzerfahrung im Raum des Möglichen: Da zeigen sich Menschen im Spiel, in Verletzlichkeit, im freien Ausdruck und großer Intimität – nicht abgeschieden im privaten Raum. Nein, sie werden darin bezeugt, öffentlich, sichtbar, offen. Und wir erleben: das geht. Möglicherweise geht das mit Scham einher, mit Fremdscham, mit Befremden. Aber wir sind den Schritt gegangen, es gemeinsam zu wagen. Ein nächster kann folgen.

Was ist Contact Improvisation?
Contact Improvisation ist eine Spielart des zeitgenössischen Tanzes, die aus der politisch-künstlerischen Avantgarde der späten 1960er, frühen 70er-Jahre heraus entstanden ist. Sie gibt keine feste Form vor, sondern stellt hohe Anforderungen an die Gegenwärtigkeit der Tanzenden. Bewegung entsteht aus dem Spiel mit den physikalischen Kräften und mit Körperkontakt. Ein Zustand aktiven Wahrnehmens weist uns den Weg, während wir die Möglichkeiten menschlicher Begegnung erforschen.
1972 wird als Geburtsjahr der Contact Improvisation betrachtet. Dem ging fast ein Jahrzehnt des Forschens im Kollektiv voraus. Tänzerinnen und Tänzer sowie andere Künstlerinnen und Künstler dekonstruierten den Tanz, ließen alles weg, was nur vermeintlich, aber nicht wesentlich dazugehört (Musik, Choreographie, Kostüme, Bühne, Rollen …). Sie befreiten das Tanzen aus dem Korsett, das die gesellschaftlichen Normen ihm verpasst hatten, und schälten so den Kern hervor: Tanz ist Bewegung um der Bewegung willen. Dieses ursprüngliche Anliegen, die Befreiung der Tänzerinnen und Tänzer vom Diktat der Choreographinnen und Choreographen sowie die radikale Neudefinition von Tanz durch eigenes Forschen, ist nicht zu verkennen und wohnt heute noch in jeder Faser unserer Tänze: Wir sind – im besten Falle – die Schöpferinnen und Schöpfer unserer Bewegungen im bewussten Zusammenspiel mit all den Kräften, die auf uns wirken, und im Dialog mit den anderen Menschen im Raum.